7 Stunden (German Edition) by Weteschnik Martin

Autor:Weteschnik, Martin [Weteschnik, Martin]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-04-10T16:00:00+00:00

Paris 1807

(Der Weg des ersten Fragments)

Joseph van Praet blickte über den Rand seiner Brille zur Tür. Er musste sich verhört haben. Alles war still. Er genoss die Stille. Wenn draußen die Öllampen der Straßenbeleuchtung angezündet wurden und der Tumult in den Pariser Straßen und Gassen langsam erlosch – und jeder Tag war für van Praet Tumult –, dann begann er aufzuleben. Zuallererst kochte er sich in seinem Amtszimmer eine Tasse Schokolade, ließ beim Trinken den Blick über die edlen Bücher im Raum schweifen und wählte dabei diejenigen aus, über denen er die Nacht zubringen würde. Heute würde es nur ein einziges Buch sein. Vor ihm lag das früheste gedruckte Buch deutscher Sprache mit Holzschnittillustrationen. Er beherrschte Deutsch wie viele andere Sprachen auch; nur Englisch nicht.

»Mein Lieber, Sie werden die Sprache erlernen müssen, sobald ich England erobert habe«, hatte Napoleon zu ihm gesagt, als er ihn als Bibliotheksdirektor einsetzte.

Van Praet lächelte. Bislang kamen aus England noch keine Bücher.

Als dieses Buch hier aus Wolfenbüttel nach Paris gelangte, hatte sogar er die Fassung verloren. Mon dieu, Tintenkleckse an den Rändern! Saloperie, der verfluchte Schweinepriester, der die Tinte verschüttet hat, hat bei der Arbeit sicher geträumt!

Der Buchblock musste beschnitten werden, was wiederum die Proportionen von Blattrand und Satzspiegel arg in Disharmonie brachte und die Größe der Buchstaben unmäßig herausstellte. Van Praet fühlte sich, als habe ihm jemand eine saftige Ohrfeige verpasst und dabei auch noch die Zunge herausgestreckt. Die ganzen letzten Jahre hatte er Ähnliches erdulden müssen. Hätte man den Besitzern denn nicht erlauben können, ihre Bücher abzugeben, bevor man sie guillotinierte? Dann wären die Bücher wenigstens unversehrt angekommen. Millionen Bände aus kirchlichem Besitz, aus Klosterbibliotheken und aristokratischen Beständen hatte die revolutionäre Bande verladen, Wetter und Regen ausgesetzt, wahllos in Fässer gestopft oder auf Kohlewagen verfrachtet und schließlich irgendwo vermodern lassen. Seine Mitarbeiter verbrachten Jahre einzig damit, aus der riesigen Müllansammlung zu bergen, was eben noch zu retten war. In Hallen, Gewölben, Sälen hatte man alles ausgebreitet, auf Reisig getrocknet, unzählige Male gewendet, um letztlich nur ein gutes Exemplar aus Tausenden he-rauszuholen. Wie viele Drucke und Schriften waren dabei verloren gegangen! Als er Inspektionen in den Bezirken vornahm, fiel er im wahrsten Sinne des Wortes in Ohnmacht. Er sei nicht der Einzige, tröstete man ihn. Manch einer habe aufgrund der Fäulnis und des giftigen Gestanks schon die Gesundheit opfern müssen.

Van Praet trank den letzten Schluck Schokolade, wusch sorgfältig Tasse und Hände und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Er rückte das Buch vor sich zurecht und als es absolut gerade vor ihm lag, nahm er es auf und betrachtete den Buchrücken, auf dem in Golddruck »Fables allemandes Bamberg 1461« zu lesen war. Er öffnete das Buch und strich liebevoll über das »Bibliothèque Impériale 1807« auf der Innenseite des Einbanddeckels. Er hatte es in rotem Maroquinleder neu binden lassen und auch sein Inhalt strahlte ihn an – und er hatte sofort gewusst, dies würde eines seiner Lieblingsbücher werden.

Seine Augen tanzten über die ungewöhnlichen Typen; hier zwar derselbe Buchstabe, dort wieder anders in Gestalt, sobald er Anfang, Mitte oder das Zeilenende zierte.

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